Die Geschichte „Eine Heimreise ohne Wiederkehr“ – Die Fortsetzungsgeschichte um das Schicksal von Belsandis, Berethilion, Calanduil, Gilbrian, Irvorien und Oronethele
Kapitel 1 – Die Kinder Bruchtals
„Fünf der Elben haben Mirobel bereits auf ihren Pferden in Richtung Enedwaith verlassen, die Furt des Glanduin überschritten und befinden sich nun außerhalb unserer Grenzen, meine Herrin.“, verkündete einer der Elben-Späher, der sich tief und anmutig vor Narakiel verbeugte und sein Haupt demütig dem Boden entgegen neigte.
Die Herrin Eregions stand währenddessen abschätzig mit dem Rücken zu ihrem Diener und lehnte versteift auf der kalkweißen Brüstung des höchstens Zimmers im Turm von Echad Mirobel, ihre kalten grauen Augen taxierten unentwegt das Treiben im Lager der Elben, das immer noch unterhalb der Mauern Mirobels errichtet war, auch wenn nun offensichtlich einige von ihnen abgereist waren.
Ohne auch nur eine einzige Regung zu zeigen, sprach Narakiel leise in Richtung des Lagers: „Das ist alles, ihr dürft euch jetzt entfernen und schickt Brennil Calanduil unverzüglich zu mir.“
Der Elben-Späher erhob sich daraufhin, nickte Narakiel knapp entgegen und verließ anschließend zügig ihr Gemach, bis er letztlich die Türen von außen in das Schloss fallen ließ.
Narakiel beobachtete aufmerksam die Geschehnisse, die sich draußen unterhalb ihres marmornen Balkons abspielten und suchte unentwegt nach ihr bekannten Gesichtern in den Reihen der Elben, die vor einigen Tagen hier eingetroffen waren, angeblich nur, um Geschenke aus Imladris zu überbringen und Wissen mit ihr teilen zu wollen, doch es musste mehr dahinter stecken, das ahnte Narakiel schon zu dem Zeitpunkt, als Irvorien, Asdoron, Gilbrian und Belsandis sich ihr vor einiger Zeit im Empfangsaal von Mirobel vorgestellt hatten. Sie waren ihr gegenüber unehrlich und verschlossen gewesen und auch der zweite Versuch, sie mit einem Willkommensfest in Eregion von ihren Angelegenheiten beschwichtigen zu wollen, war letztlich gescheitert.
Narakiel überlegte, welche Möglichkeiten ihr jetzt blieben, um die „Kinder Bruchtals“, wie sie die Neuankömmlinge abschätzig betitelte, loswerden könnte, um ihre eigenen Pläne nicht länger in Gefahr zu wissen.
Das leise Klopfen an ihren Zimmertüren, das von außen an ihre Ohren drang, entriss sie plötzlich ihren Gedanken, sodass sich die Elbin wieder ihrem Gemach zuwandte und sie gebieterisch in Richtung der Zimmertüren sprach: „Tretet ein!“
Die großen Türen wurden langsam geöffnet und eine hochgewachsene Elbin mit ungepflegten blonden Haaren, die ihr seitlich auf die Schulter fielen, kam mit gelangweilten Gesichtsausdruck gemächlich den lavendelfarbenen Teppich entlang auf sie zu geschritten und neigte kurz vor ihr das Haupt, um Narakiel angemessen zu begrüßen.
Ohne diese förmliche Begrüßung zu erwidern fuhr die Herrin Eregions nüchtern fort:
„Wer von ihnen hat das Lager verlassen und ist abgereist?“
Calanduil sah zu ihrer Herrin auf und antwortete sofort in einem ruhigen Tonfall: „Ihre Anführerin, Brennil Irvorien, der stumme Elbherr, Hîr Asdoron, die verletzte Elbendame, Brennil Vahalla und ihr geschwätziger Bruder, Hîr Vallhaldor und auch…“, die Elbin verstummte augenblicklich und hielt inne.
Narakiel verzog keine Miene, sondern funkelte Calanduil einfach nur an.
„…Hîr Valimaro, der Sindar, der mir aus Imladris gefolgt ist und mich im Tal der Riesen zurück zu den Zwillingen und ihrem Vater in das versteckte Tal bringen wollte.“, beendete Calanduil schließlich ihren Satz.
Narakiel lächelte leicht und sagte: „Ich hatte euch doch gleich gesagt, dass es nicht ausreicht, diese Kinder dort mit dem wilden Menschenvolk zu vertreiben, aber immerhin, ich hatte Recht mit meinen Zweifeln und Vorbehalten, jetzt müssen wir auf diese Situation angemessen und weise reagieren.“
Calanduil räusperte sich auffällig.
„Nur zu.“, sprach Narakiel freundlich weiter, „so macht nur einen Vorschlag Brennil Calanduil.“
„Wir könnten mit eurer Hilfe den fünf Elben nachsetzen und auf eine passende Gelegenheit warten.“
Narakiel zog nun doch amüsiert ihre Augenbrauen nach oben und ihre weiße Mundwinkel zitterten leicht, da sie den Anflug eines Lächelns krampfhaft versuchte, zu unterdrücken, knapp sagte sie dann darauf: „Um genau, was zu tun? Einen Sippenmord unter den wachsamen Augen der Grauen Schar zu begehen? Um den Verdacht der Kinder auf uns noch weiter zu befeuern?“, dann verhärtete sich die Miene Narakiels wieder vollständig und sie sprach plötzlich in einem unfreundlichen und tadelnden Tonfall in Calanduils Richtung weiter: „Seid nicht so närrisch, diese Angelegenheit überlasse ich jetzt nicht mehr dem Zufall oder den Menschen dieser Lande. Die Elben, die den Glanduin in südlicher Richtung überquerten, sind vorerst nicht mehr unser Problem.“
Narakiel wandte sich von Calanduil ab und schritt wieder zum Balkon hinüber, den Blick erneut auf das Lager der Elben Imladris‘ unter ihrem Gemach gerichtet.
„Was habt ihr stattdessen vor?“, fragte Calanduil spürbar interessiert hinter ihr.
Nun umspielte doch ein Lächeln die Mundwinkel Narakiels und nach einer kurzen Pause sprach sie: „Lass deine Freunde nah an dich heran, deine Feinde noch näher.“
Calanduil bewegte sich langsam auf den Balkon zu und stellte sich schließlich neben Narakiel, um ihrem Blick zum Lager folgen zu können, als die Herrin Eregions mit ruhigem Tonfall weiter fortfuhr: „Begebt euch zu den Schmieden und wartet dort auf weitere Anweisungen von mir, wir müssen jetzt sehr behutsam vorgehen und abwarten, welche Reaktion von den Elben aus Imladris zu erwarten ist.“
Calanduil nickte knapp und blickte sogleich in Richtung der Schmieden Celebrimbors während Narakiel fortfuhr:
„Für die Kinder aus Imladris seid ihr in den Bergen tödlich verunglückt, Calanduil. Sie glauben dem Sindar, der euch stürzen sah und nun Eregion mit den anderen Elben verließ. Wir müssen jetzt herausfinden, wer von diesen Elben dort unten im Lager die übrige Schar anführt und welche Zweifel und Vorbehalte sie den unseren gegenüber hegen.“
„Was ist, wenn sie nach Bruchtal aufbrechen und Hîr Elrond von ihren Beobachtungen und Erlebnissen Bericht erstatten?“, fragte Calanduil bekümmert.
Narakiel schmunzelte bei ihren Worten und erwiderte ihrerseits belustigt:
„Sieht das dort unten für dich etwa danach aus, als wenn die Elbenschar aufbrechen wollen würde? Nein, ich denke eher, jetzt ist die Gelegenheit gekommen, die Neuankömmlinge von der Erhabenheit und Anziehungskraft unserer elbischen Landen zu überzeugen.“
Als die Herrin Eregions ihre Worte gesprochen hatte, herrschte für eine geraume Weile eine merkwürdige Stille zwischen den beiden, die ihren Blick fest auf das Lager unter dem Balkon gerichtet ließen.
Schließlich sprach Narakiel wieder mit unfreundlichen Tonfall in Richtung Calanduil weiter: „Entfernt euch jetzt von diesem Turm und kehrt zu den Schmieden zurück. Ich lasse euch rufen, sobald ich einen Plan gefasst habe.“
Calanduil drehte sich augenblicklich herum und machte sich daran, zu gehen, hielt dann auf halber Wegstrecke im Zimmer aber inne, wandte sich nochmals in Richtung Narakiel und sprach: „Vielen Dank, Herrin, dass ihr mir mein Versagen verziehen habt und ich euch weiterhin dienen darf.“
Daraufhin neigte Calanduil zum Abschied ihr Haupt und verließ dann das Gemach von Narakiel.
Als die schweren Zimmertüren in ihr Schloss gefallen waren seufzte die Herrin Eregions einsam in ihrem Gemach und flüsterte leise über die Brüstung hinweg: „Ihr kennt mich noch nicht gut genug, mein Kind Bruchtals, um zu wissen, dass wir Feanorim keine Schwäche vergeben und die Schwäche anderer stets zu unserem eigenen Vorteil einsetzen werden.“
Kapitel 2 – Zwei Gefährten
„Das war der Letzte von ihnen“, raunte der Elb in der weißen Kutte, der sich seine Kapuze tief in das Gesicht gezogen hatte und in gebückter Haltung über dem leblosen Körper unter sich verharrte, in Richtung Gilbrian, der ein paar Meter entfernt hinter ihm Stand und sich aufmerksam im Lager umsah, in dem sich beide befanden, ob sie nicht doch jemanden hier übersehen hatten.
Der Waldelb mit den gelockten kastanienfarbenen Haaren schaute zum Himmel empor und sprach schließlich: „Lass uns jetzt gehen Oro, hier ist sie nicht, wir haben dieses Lager ausgiebig nach ihrem Verbleib abgesucht und ich erkenne nicht einmal ansatzweise Spuren von Elben. Es dämmert bereits und wir müssen nach Mirobel vor Einbruch der Nacht zurückgekehrt sein, damit wir noch Gelegenheit haben, unsere eigenen Spuren zu verwischen, sodass sich uns keine Verfolger aus Rache an die Fersen heften können oder wir den Verdacht unnötigerweise auf die Elben aus Eregion lenken.“
Oronethele erhob sich von dem Leichnam des Dunländers, den er vor einigen Augenblicken kaltblütig und ohne größere Kraftanstrengung seinerseits mit wenigen schnellen Klingenstichen seines Dolches tödlich verwundet hatte, als er ihm mehrfach mit dem Elbenstahl zwischen die oberen Rippen stach. Der Mann war in wenigen Minuten verblutet und konnte beiden Elben keine Informationen mehr zum Verbleib von Maicariel mitteilen, genauso wenig wie die übrigen Dunländer, die kreuz und quer im Lager verteilt lagen, in dem beide Elben zuvor gewütet hatten. Doch sie hatten auch niemanden gefragt. Wie bei jedem Lager zuvor, das sie in Eregion auf die gleiche Art und Weise geleert hatten.
In dem Moment der Befreiung von Brennil Vahalla oder vielleicht sogar noch früher, und zwar als sie die beiden Dunländer bei den Hügeln als Elbengruppe gestellt hatten, wurde etwas in Oronethele herausgefordert, das sein Wesen als Noldo angesprochen hatte und ihn jetzt dazu antrieb, seinen Zorn und Schmerz über die Teilung der Elbengruppe sowie die verzweifelte Suche nach Brennil Maicariel an den Bergmenschen Eregions auszulassen.
Etliche kleinere Lager hatten Gilbrian und er bereits entlang der Ausläufer des Nebelgebirges ausfindig machen können, die Situation vor Ort ausgekundschaftet und sich jedes Mal dafür entschieden, mit den Menschen im Lager kurzen Prozess zu machen und eine Spur der Verwüstung zu hinterlassen.
Dabei achteten sie akribisch genau darauf, ihre Taten nach einem Ork- oder Bilwissangriff aussehen zu lassen, jedenfalls für einen ungeübten Betrachter.
„Ich bin ja nicht blind Gilbrian.“, herrschte der Elb in weißer Kluft den Waldelb in barschem Tonfall an und stapfte anschließend an ihm vorbei aus dem kleineren Lager, das mit provisorischen Palisadenpfählen befestigt worden war.
Gilbrian schüttelte daraufhin nur abfällig den Kopf und machte sich anschließend bereit, die Spuren der Zerstörung zu verwischen, indem er zunächst ein Feuer entzündete und sogleich mit seiner Fackel damit begann, zuerst die am Boden liegenden Leichen zu entzünden und anschließend die kleinere Holzbaracke, aus der die Dunländer panisch auf die beiden Elben zugelaufen kamen, als Oronethele und er sich lautstark bemerkbar gemacht hatten und vor allem Oronethele in wilder Raserei über die unterlegenen Menschen hergefallen hatten, die keine Chance gegen die überlegenen Elben besaßen.
Als schließlich schwarzer Qualm über dem Lager aufstieg, verließ auch Gilbrian die Palisadenbefestigung und sah sich nach dem Verbleib seines Gefährten um, den er weiter nördlich auf einem weiteren Hügel entdecken konnte.
Oronethele meditierte dort gelassen auf seinen Knien und war still in seinen Gedanken verloren, als sich der Waldelb plötzlich hinter ihn stellte und seine linke Hand auf die Schulter des Noldo legte, in ruhigem Tonfall sprach Gilbrian zu ihm nieder:
„Es reicht Oro. Wir haben jetzt drei Lager nach ihr abgesucht. Ich denke, wir sollten uns mit dem Gedanken anfreunden, dass unsere Gefährten um Irvorien, die Brennil Vahalla geleiten, südlich des Glanduin mehr Erfolg bei ihrer Suche haben. Lass uns nach Mirobel zurückkehren und Belsandis Bericht erstatten.“
Oronethele, der die Augen geschlossen hielt, erwiderte trocken: „Was ist, wenn sie die Dunländer weiter Richtung Norden verschleppt haben, das wissen wir nicht genau. Wir sollten weitersuchen, Gilbrian.“
Der Waldelb sah am Noldo vorbei in nördliche Richtung und räusperte sich: „Wenn wir die Ausläufer weiterhin erklimmen wollen, werden wir bald auf größere Lager und Außenposten, vielleicht sogar Dörfer stoßen. Dann sind es auch Frauen und Kinder, um die wir uns kümmern müssten, Oro. Das ist nicht mit meinen Werten vereinbar, bewaffnete Dunländer, die hier als Krieger zu erkennen sind, das ist etwas anderes, aber ich werde keine von ihren Frauen und Kinder von Arda verdammen und du auch nicht, mein Freund, da bin ich mir sicher.“
Oronethele öffnete daraufhin seine Augen und folgte dem Blick seines Freundes.
Nach einer kurzen Pause sprach er folgende Worte an Gilbrian gewandt: „Lass uns umkehren, wir teilen Belsandis mit, was wir hier nicht finden konnten und versuchen stattdessen, Narakiel und ihren Elben in Mirobel das Handwerk zu legen.“
Der Waldelb nickte bereitwillig und entgegnete sanft: „Zuerst werden wir Belsandis dabei helfen, den Zwerg Dim zu befreien, der auf ihren Geheiß hin in Mirobel festgehalten wird und anschließend sammeln wir Beweise dafür, dass Narakiel in die Entführung von Brennil Vahalla und Brennil Maicariel verstrickt gewesen ist.“
Oronethele blickte in die Ferne Richtung Imladris und sprach: „Vielleicht ist es besser, direkt nach Imladris zu marschieren und mit den Zwillingen oder Elrond höchstselbst zurückzukehren, damit sie die Situation in Mirobel beurteilen können.“
„Ohne konkrete Beweise Oro? Diese harten Anschuldigungen sind bisher nur Mutmaßungen unsererseits und wir haben nichts, außer unseren Verdacht und den Namen dieser Elbin, die Narakiel vielleicht zu Diensten ist. Wir sollten weise handeln und uns gut und wohl überlegen, wann es an der Zeit sein wird, mit den Elben aus Imladris zu drohen. Du darfst auch nicht vergessen, dass die Elben Mirobels uns für Gesandte des versteckten Tals halten und nicht über unsere wahren Absichten aufgeklärt sind. Das ist ein Vorteil, den wir verlieren werden, sobald bekannt werden wird, dass wir Narakiel und ihrer Elbenschar gegenüber nicht aufrichtig gewesen sind. Und diesen Vorteil sollten wir solange für unsere Zwecke ausnutzen, wie es geht.“
Oronethele schüttelte sich die Hand seines Freundes ab und unterbrach diesen barsch: „Das ist mir gleich. Ich nehme es gerne mit diesen Elben hier auf, sollen sie es nur versuchen, uns als Gruppe zu entzweien, mein Zorn wird sie härter treffen, als sie vermuten mögen.“
Daraufhin rollte Gilbrian mit den Augen und machte auf dem Absatz kehrt, wie oft schon hatte der Waldelb diese Worte in den vergangenen zwei Tagen von seinem Gefährten gehört, er war sichtlich genervt davon.
Nach einem tiefen und unüberhörbaren Einatmen sprach Gilbrian schließlich weiter: „Dazu wird es nicht kommen, mein Freund. Wir sind schlauer als sie und finden Beweise, wenn es Beweise zu finden gibt. Lass uns jetzt bitte die Spuren endlich beseitigen, damit wir umkehren können.“
„Einverstanden, Gilbrian. Diesmal kümmere ich mich um das Verschwinden der Fährte.“, erwiderte der Noldo und kehrte in Richtung des brennenden Lagers zurück.
Nachdem Oronethele dafür gesorgt hatte, dass der Überfall auf das Lager der Dunländer nach einem Orkangriff aussah und ihre elbischen Spuren großzügig verschwinden ließ, machten sich beide Elben wieder zu Fuß in Richtung Mirobels auf, da die beiden sicherheitshalber ihre Pferde nicht auf die Suche nach Maicariel mitgenommen hatten, um unauffälliger in der Wildnis agieren zu können.